"Du kannst nun nicht aufgeben, wir sind auf einander angewiesen und sichern uns gegenseitig." Das waren meine Worte kurz vor dem Gipfel, nachdem wir bereits zehn Stunden unterwegs waren. In den Bergen gilt es einander zu vertrauen und gegenseitig zu helfen. Ich habe während der Besteigung des Gipfels am Nördlichen Patagonischen Eisfeld viel gelernt. Gerne erzähle ich dir davon.
Um drei Uhr klingelte nach einer kurzen und kalten Nacht der Wecker. Wir drei essen im Zelt Haferflocken und ein Brötchen mit dem hier typischen Caramel-Brotaufstrich„Dulce de Leche“. Nachdem wir den Klettergurt angeschnallt, den Helm aufgesetzt und die Kletterausrüstung an den Rucksack geschnallt haben, ging es los. In der Morgendämmerung wanderten wir über den Gletscher. Es folgte die erste Herausforderung. Nataniel erklärte uns, wie wir uns am vor uns liegenden Hang gegenseitig sicherten. Er kletterte vor, während wir ihn sicherten. Für diesen Aufstieg benötigten wir mehr Zeit als geplant, dafür kamen wir auf dem darauffolgenden Geröllfeld schneller voran.
Eine gute Vorbereitung ist für eine Bergtour auf hochalpinem Gelände extrem wichtig. Damit man einander vertrauen kann, muss man sich kennen lernen und trainieren. Am Tag vor dem Start bereiteten wir uns gemeinsam mit unserem chilenischen Bergführer Nataniel Luis Cox Sánchez auf die Tour vor. Nachdem wir das Material beisammen hatten, trainierten wir die Spaltenrettung. Einmal mehr war ich erstaunt wie viele Knoten es gibt und welche Optionen sie einem ermöglichen.
Nach einer unruhigen Nacht im Zelt ging es am nächsten Tag mit einem Jetboot über den See und den Fluss weiter. Wir wurden an einer Flussmündung ausgeladen und wanderten 1'000 Höhenmeter durch den sumpfigen Urwald. Es war nicht gerade ein gepflegter Wanderweg. Ständig rutschten unsere Füsse von einer Wurzel in den Sumpf und Büsche und Bäume versperrten uns den Weg. Nach fünf Stunden kamen wir beim Basislager an.
Die Sonnte trieb uns den Schweiss aus den Poren. „Patagonien überrascht mich immer wieder. Heute haben wir keinen Wind, blauen Himmel und optimale Schneeverhältnisse. So etwas ist aussergewöhnlich. Genau diese Diversität ist so faszinierend“, meinte Nataniel. Jede Gipfelbesteigung ist einzigartig und hier weiss man nie so recht, was einem erwartet. Nach einem strengen Anstieg erwartete uns das gigantische Nördliche Patagonische Eisfeld. Wir traversierten die Passhöhe, um danach den Gipfel zu erklimmen. Dieser war trotz der warmen Temperaturen vereist und so lernte ich wie man die Eisschrauben zur Sicherung benutzt. Langsam kam die Müdigkeit auf. Als wir schliesslich den Gipfel erreichten, war es für mich schwierig diesen zu realisieren. So viele Eindrücke – wir sahen über das Nördliche Patagonische Eisfeld bis zum Pazifik. Gleichzeitig war ich besorgt, weil wir nicht mehr viel Wasser hatten und wir erst in der Hälfte der Tour waren.
Während dem Abstieg gingen uns die Wasserreserven aus und wir kochten den Schnee, um was zu trinken zu haben. Auch das benötigte wieder Zeit. Langsam ging die Sonne hinter den Bergen unter und wir mussten den steilen Abstieg in Angriff nehmen. Diesmal kletterte ich vor und wurde von oben gesichert. Mit grossem Respekt ging ich an einer Eisspalte vorbei. In der Dämmerung wirkte sie noch düsterer als am Morgen. Knapp bevor es richtig dunkel wurde erreichten wir nach 17 Stunden unser Basislager. Die Milchstrasse funkelte am Himmel. Bevor ich einschlief war lediglich das Krachen und Donnern der umliegenden Gletscher zu hören.
In den Bergen entsteht eine spezielle Gemeinschaft mit viel Tiefgang. Nach der Tour ruhten wir uns beim Basislager aus und Nataniel erzählte uns von den verschiedenen politischen Epochen in Chile. Kommenden April soll in Chile über eine neue Verfassung abgestimmt werden. Die aktuelle datiert noch aus Zeiten der Militärdiktatur. Zudem finden viele Studenten nach dem Studium keine Arbeit und müssen gleichzeitig ihre Studiengebühren zurückzahlen. In den Strassen sehe ich viele junge Leute, die an Kreuzungen mit Keulen jonglieren. Angeblich verdienen sie so teilweise mehr, als wenn sie den erlernten Beruf ausüben. Generell ist in Chile die medizinische Versorgung und sogar Wasser keine Selbstverständlichkeit. Als hätte die chilenische Bevölkerung nicht bereits genug Herausforderungen erschüttert nun der Corona-Virus das Land. Es ist zu hoffen, dass die Politiker der Welt nun alle an einem Seil ziehen und wir uns wie in den Bergen gegenseitig helfen.